Kopplungseffekt bei Mehrscheiben-Isolierverglasung

Allgemeines

Der Kopplungseffekt beschreibt das Verhalten der inneren und äußeren Glasplatten bei Mehrscheiben-Isolierglasverglasungen (MIG), wenn eine äußere Einwirkung (z.B. pa in Abb. 1) an einer der beiden Platten eine Durchbiegung hervorruft. Diese bewirkt je nach Richtungssinn der äußeren Einwirkung eine Verringerung oder Vergrößerung des im Scheibenzwischenraum (SZR) luftdicht abgeschlossenen Gasvolumens. Hierdurch entsteht ein Innendruck Dp, welcher ebenfalls auf die nicht direkt durch die äußere Einwirkung beanspruchte Glasscheibe des MIG(s) wirkt.

Kopplungseffekt

Abb. 1: Kopplungseffekt bei MIG und Überlagerung mit Klimalast

Dies bedeutet, dass im Fall eines intakten SZR(s) die lotrecht zur Glasoberfläche wirkenden Lastanteile einer äußeren Einwirkung von beiden Verglasungseinheiten des MIG(s) abgetragen werden. In welchem Verhältnis dies geschieht, kann mathematisch mit Hilfe der in Gl. 1 beschriebenenThermische Zustandsgleichung für eine abgeschlossene ideale Gasmenge ermittelt werden.

Gleichung 1

Gl. 1 mit: p … Druck im SZR, V … Volumen des SZR(s), T … Temperatur im SZR, Index E … am Einbauort zum Betrachtungszeitpunkt, Index H … am Herstellungsort bei der Versieglung des SZR(s)

Näherungsverfahren basierend auf FELDMEIER

Dieses inzwischen in der Praxis etablierte Näherungsverfahren wurde maßgeblich durch FELDMEIER auf Grundlage der linearen Plattentheorie für Flächenlasten aus der Thermischen Zustandsgleichung für eine abgeschlossene ideale Gasmenge abgeleitet (siehe Gl. 1). Die dabei angewendete Vorgehensweise und die hierfür nötigen Vereinfachungen sind in [1] beschrieben. Hieraus folgt eine angesichts des komplexen Sachverhaltes relativ übersichtliche Lösung, die sich in allen für Deutschland relevanten Richtlinien und Normenentwürfen wieder findet.

Zunächst werden die statischen Eigenschaften des MIG(s) durch eine charakteristische Kantenlänge a* erfasst:

Gleichung 2

Gl. 2 mit: dSZR … Dicke des Schiebenzwischenraumes, di … Dicke bzw. VSG-Ersatzdicke der inneren Glasschicht, da … Dicke bzw. VSG-Ersatzdicke der äußeren Glasschicht, k5 … Beiwert für das Durchbiegungsvolumen (in TRLV: BV)

Anschließend ist ein Isolierglas-Faktor f zu bestimmen:

Gleichung 3

Gl. 3 mit: a … kleinste Kantenlänge bei rechteckiger, allseitig gestützter Geometrie bzw. Länge der freien Kante, wenn nicht allseitig gestützt

Mit Hilfe des Faktors fund den Verhältnissen der Biegesteifigkeiten da = da³ / (da³ + di³) und di = 1 – da lassen sich die Einwirkungen auf die innere und äußere Glasplatte des MIG(s) aufteilen.

Lastangriff auf Einwirkung Lastfaktor für

äußere Glasplatte

Lastfaktor für innere Glasplatte
äußere Glasplatte Wind wa, Schnee s l1 = da + f × di l2 = (1 – f) × di
innere Glasplatte Wind wi l3 = (1 – f) × da l4 = f × da + di
beide Glasplatten isochorer Druck p0 f f

Tab. 1: Aufteilung der Beanspruchungen auf die innere und äußere Glasplatte eines MIG(s) [2, Tab A2]

In den Technische Regeln für die Verwendung von linienförmig gelagerten Verglasungen (TRLV) [2] ist die Anwendung auf Rechteckscheiben ausgelegt. Näherungen für andere Geometrien bietet die zurückgezogene prEN 13474-2 [3, Anhang D] an. Alle Lösungen gelten nur für gleichmäßig über die Glasoberfläche verteilte Flächenlasten.

Kopplungseffekt bei Punktlasten und versuchstechnische Überprüfung

Die Thermische Zustandsgleichung für eine abgeschlossene ideale Gasmenge wurde in Vorbereitung auf das TW Solution-Modul „TWGlas“ für Punktlasten gelöst. Dies ermöglicht z.B. die konsistente Auswertung von Personenlasten, welche für Reinigungszwecke auf Horizontalverglasungen anzusetzen sind. Inwieweit die gefundene Lösung reale Verhältnisse widerspiegelt, soll ein Versuch an einer punktförmig belasteten MIG zeigen, dessen Durchführung in Zusammenarbeit mit der HTW-Dresden (FH) [4] geschah.

An einer allseitig linienförmig gelenkig aufgelagerten MIG, bei welcher das Abheben der Ecken unterdrückt ist, wurden Dehnungsmessungen an der oberen und unteren Glasplatte jeweils in Feldmitte durchgeführt, um die mathematische Lösung für den Koppeleffekt stichpunktartig zu überprüfen. Die rechteckige MIG hat die Abmessungen von a / b = 0,9 / 1,2 m und einen symmetrischen Querschnitt: 2,84 mm Floatglas / 8 mm SZR / 2,84 mm Floatglas. Der SZR ist mit einem Ventil versehen worden, welches vor der Versuchsdurchführung eine Zeit lang geöffnet wurde, um klimainduzierte Belastungen auszuschließen.

Abbildung

Abb. 2: Versuchseinrichtung a) vor, b) nach der Durchführung

Die Aufnahme der Dehnungen erfolgte durch die Messung von Widerstandsänderungen an Dehnmessstreifen (DMS), welche jeweils über zwei orthogonal zueinander angeordnete Messgitter verfügten. Um die Widerstandsänderung infolge der durch den elektrischen Stromfluss auftretenden Wärmedehnung des Glases zu kompensieren, waren die DMS unter Anwendung der WHEATSTONE-Brückenschaltung in Form von „Halbbrücken“ verschaltet, die mit Hilfe von Ergänzungswiderständen zu „Vollbrücken“ geschlossen wurden. Die Messkette verfügte außerdem über ein Kalibrierungsgerät.

Die Versuchsdurchführung erfolgte unter schrittweiser Steigerung einer durch Gewichtsscheiben in Feldmitte eingeleiteten Einzellast Q mit 10 cm x 10 cm Aufstandsfläche bis zum Bruch, wobei die Lasten nach einer gewissen Aufbauzeit jeweils 30 Sekunden lang auf der Glasoberfläche stehen gelassen wurden. Das folgende Diagramm zeigt die Versuchsergebnisse für die obere und unter Glasplatte im Vergleich zur theoretischen Lösung. Die x-Richtung liegt hierbei parallel zur kurzen und die y-Richtung parallel zur langen Seite des rechteckigen MIG(s) (siehe Abb. 2 a).

Versuchsergebnisse

Abbildung 3

Abb. 3: Vergleich der Versuchsergebnisse (Punkte) mit den theoretischen Lösungen (Graphen)

Die Versuchswerte passen sich im für die betreffende MIG praktisch zulässigen Bereich (Q = 100 … 150 N) in die Werte der mathematischen Beschreibung ein, welche in diesem Bereich eine auf der sicheren Seite liegende Bemessung gewährleisten würde. Bei Beanspruchungen, welche über dem praktisch zulässigen Bereich liegen, weichen die Messwerte besonders in y-Richtung (lange Seite) auf der Oberseite der oberen Glasschicht deutlich ab. Die praktische Ausbildung der Membranwirkung am Modell unterscheidet sich offensichtlich von der für die Schnittgrößen verwendeten mathematischen Beschreibung nach Theorie III. Ordnung. Hierbei kann unter anderem die Auflagerung des MIG(s) an der Versuchseinrichtung eine Rolle spielen, die sicherlich nicht ideal gelenkig wirkt, zumal die Konstruktion zur Vermeidung abhebender Ecken einen gewissen Einspanneffekt bei großen Durchbiegungen erzeugt.

Insgesamt fällt der Koppeleffekt zwischen oberer und unterer Glasschicht, verglichen mit den theoretischen Überlegungen, etwas geringer aus. Dies ist unter anderem damit zu begründen, dass für die Herleitung des durch die Einzellast zustande kommenden Innendruckes im SZR die lineare Plattengleichung verwendet wird. Die Folge ist eine Überschätzung des Durchbiegungsvolumens, weshalb in der Rechnung ein höherer Innendruck zustande kommt als in der Realität. Dieser Innendruck belastet wiederum die untere Glasplatte. Ein weiterer Grund für die Abweichungen ist der mögliche Unterschied zwischen theoretischem und tatsächlichem E-Modul.

Durch das eingebaute Ventil (effektive Durchlassöffnung im geöffneten Zustand ca. 3 bis 5 mm²) konnte ein undichter SZR simuliert werden. Zu beobachten war, dass der Kopplungseffekt am verwendeten MIG erst nach einer Dauerbelastung durch die mittige Einzellast von ca. 2 Minuten in deutlich abgeschwächter Form vorlag. Unter stoßartigen Belastungen ist demnach bei einer geringen Undichtigkeit des SZR nicht mit einer wesentlichen Änderung des Tragverhaltens am MIG zu rechnen.

Fazit

Die im Rahmen der Softwareentwicklung für „TWGlas“ gefundene mathematische Lösung zur Berücksichtigung des Kopplungseffektes bei MIG liefert unter punktförmiger Belastung für das betrachtete Beispiel ausreichend genaue Ergebnisse. Ein kompletter Ausfall des Kopplungseffektes ist im Rahmen von stoßartigen Beanspruchungen nur bei einer erheblichen Undichtigkeit des SZR(s) zu erwarten.

Quellenverzeichnis

[1]FELDMEIER, F.: Zur Berücksichtigung der Klimabelastung bei der Bemessung von Isolierglas bei Überkopfverglasungen. In: Stahlbau 65 (1996) Heft 8, S. 285-290

[2]SVA, DIBT: Technische Regeln für die Verwendung von linienförmig gelagerten Verglasungen, 8/2006. In: Mitteilungen des Deutschen Instituts für Bautechnik, Berlin 03/ 2007

[3]CEN/TC 129: prEN 13474-2: Glas im Bauwesen – Bemessung von Glasscheiben, Teil 2: Bemessung für gleichmäßig verteilte Belastungen. Berlin: Beuth 02/ 2000

[4]HOCHSCHULE FÜR TECHNIK UND WIRTSCHAFT DRESDEN (FH), Friedrich-List-Platz 1, D-01069Dresden

Autor

Thomas Gröschke
M.Sc., Dipl.-Ing. (TU, FH)

Info@tragwerk-ingenieure.de

TragWerk Software
Döking + Purtak Partnerschaft

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